Apotheker:innen können der Gefahr vorbeugen
Der Horror: Die eine Pandemie neigt sich dem Ende, eine weitere steht schon vor unserer Tür – zumindest dann, wenn wir nichts unternehmen. Jährlich sterben weltweit 750.000 Menschen an Infektionen mit multiresistenten Bakterien – also Erregern, die auf bestimmte Antibiotika nicht mehr ansprechen. Experten schätzen, dass die Zahlen drastisch steigen könnten. Die UniDAZ-Redaktion wirft einen Blick auf die Ursachen und darauf, was Pharmazeut:innen dagegen tun können und heute schon leisten.
Als ich von der Arbeit nach Hause komme, höre ich aus der Küche ein markantes Papierknistern. Mein Mitbewohner Clemens sitzt mit verzerrtem Gesicht auf dem grünen WG-Sofa und liest einen auseinandergefalteten und eng beschriebenen Beipackzettel. Das war also dieses altbekannte Geräusch: die Packungsbeilage. Der Pharmazeut in mir ist ganz Ohr. Neben Clemens liegt eine rot-weiße Schachtel, auf der „Ciprofloxacin 500 mg“ steht.
Aha, ein Antibiotikum, denke ich. Was war das noch gleich für eine Wirkstoffklasse? Die grobe Strukturformel schießt mir durch den Kopf. Ich erinnere mich, was ich zum zweiten Staatsexamen lernte. „Da hat Dir der Doktor aber eine ziemliche Rakete aufgeschrieben“, sage ich zu Clemens, der konzentriert auf den Zettel starrt.
Heute verlieren viele Antibiotika ihre Wirksamkeit gegen Erreger, die ursprünglich sensibel auf die Mittel reagierten. Durch Mutationen ihres Erbgutes und andere Mechanismen lernen die Bakterien, sich anzupassen. Weil andere Artgenossen absterben, nimmt der Konkurrenzkampf ab. Nun fällt es den Resistenzträgern leicht, sich zu vermehren. Außerdem können sie die Informationen ihres Erbgutes untereinander austauschen, die die Resistenzen verschlüsseln.
Immer die „böse“ Pharmaindustrie
„Jetzt muss ich mich mit dir und der Pharmaindustrie einlassen“, spottet mein Mitbewohner. „Sei doch froh“, entgegne ich, „dass deine Schmerzen in der Magengegend, über die du seit Wochen jammerst, bald ein Ende haben werden.“ Das war gemein von mir. Mit rotem Gesicht schießt Clemens zurück: „Und was ist mit den Flüssen in Indien, in denen meterhoch der Schaum steht, nur damit du einen Job hast – und ich keine Schmerzen?“
Wahrscheinlich meint er diese ARD-Doku, die wir letztens in der WG gesehen haben: „Tödliche Supererreger aus Pharmafabriken“. In der Doku zeigen die Reporter, wie indische Antibiotika-Hersteller ihre chemischen Abfälle einfach in die Flüsse leiten – ohne sie vorher ausreichend zu klären. Den größten Fluss der Pharma-Hochburg Hyderabad bedeckt ein dicker Teppich aus Schaum.
Fast alle generischen Antibiotika werden in Indien hergestellt, weil es billiger ist. Generika sind günstigere „Nachahmer“-Präparate von bereits zugelassenen Arzneimitteln. In der Apotheke sind heute mehr als 97 Prozent der abgegebenen Antibiotika generische Arzneimittel.
Einer der Experten in der ARD-Doku war Professor Dr. Christoph Lübbert, Infektiologe am Universitätsklinikum und Chefarzt am St. Georg-Klinikum in Leipzig. Er fand zum Beispiel heraus, dass 70 Prozent der Touristen, die in Indien gewöhnliche Sehenswürdigkeiten besuchten, mit multiresistenten Keimen zurück nach Deutschland kamen. Der UniDAZ-Redaktion erklärt er, wie gefährlich die Erreger wirklich sind. Herr Prof. Dr. Lübbert, wo kommen die Antibiotika-Resistenzen her?
Lübbert: Immer dort, wo wir viele Antibiotika ungezielt einsetzen, bekommen wir mehr Resistenzen. Das ist ein Naturgesetz. Und wir können nicht alle paar Jahre auf neue Antibiotika-Klassen zurückgreifen …
UniDAZ: … weil viele große Pharmakonzerne heute keine neuen Antibiotika mehr erforschen. Laut des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen (VfA) lässt sich die kostspielige Wirkstoffentwicklung kaum refinanzieren. Werden neue Antibiotika zugelassen, kommen diese nur im Notfall als Reserveantibiotika zum Einsatz. Eigentlich müssten alle alarmiert sein. Aber seit der Corona-Pandemie redet man nur noch über Viren. Ist die Gefahr multiresistenter Bakterien nicht mehr so groß wie früher?
Lübbert: Doch, es ist ein relevantes, globales Problem. Bei der Corona-Pandemie zeichnet sich ein Weg ab, wie wir sie in den Griff bekommen. Danach wird der Blick auf Antibiotikaresistenzen zurückkehren. Diese können sich global unglaublich schnell verbreiten. Das übersehen wir leicht. Trotzdem muss man sagen, dass sich die Antibiotika-Anwendung am Menschen und bei Tieren in westlichen Ländern reduziert. Das zeigen viele Statistiken. Lediglich beim Eintrag von Antibiotika in der Umwelt fehlt derzeit eine wirklich belastbare Bestandsaufnahme.
UniDAZ: In einer Dokumentation über Antibiotika-Resistenzen wateten Sie mit einer ARD-Reporterin durch schäumende Flüsse im indischen Hyderabad. Ist die Antibiotika-Herstellung in Indien und China gefährlich?
Lübbert: Klar ist: Schon bei der Produktion gelangen Antibiotika (und Antimykotika) in die Umwelt. Bereits hier beginnt die natürliche Selektion resistenter Keime. Menschen nehmen diese Keime auf und können Infektionen erleiden.
UniDAZ: Aber die Krankenkassen in Deutschland müssen Geld sparen. Also übernehmen sie über ihre Rabattverträge nur die Kosten für Arzneimittel derjenigen Hersteller, die sie am billigsten verkaufen. Das schaffen die Unternehmen, indem sie Wirkstoffe für ihre Arzneimittel einkaufen, die so günstig wie möglich produziert wurden. Allen sind dabei doch die Hände gebunden, oder nicht?
Immer dort, wo wir viele Antibiotika ungezielt einsetzen, bekommen wir mehr Resistenzen. Das ist ein Naturgesetz.
Professor Dr. Christoph Lübbert
Lübbert: Antibiotika können gern, bei dem Versuch, Kosten einzusparen, woanders hergestellt werden – aber nur, wenn dort die Standards genauso gut sind wie bei uns. Das ist aber nicht der Fall. In Indien gibt es sogar recht gute Umweltgesetze, aber kaum jemand hält sich daran. Die Einhaltung der Standards werden nicht kontrolliert. Das nutzen die pharmazeutischen Hersteller systematisch aus. Solange auf dem freien Markt derjenige den Auftrag erhält, der am billigsten produziert, ändert sich daran nichts. Im Sommer hat die Bundesregierung das Lieferkettengesetz beschlossen. Danach sind große Unternehmen ab 2023 auch für Umweltbelange in ihrer ganzen Lieferkette mit verantwortlich. Mal schauen, ob das etwas ändert.
UniDAZ: Und wenn das nichts ändert?
Lübbert: Dann sollten unentbehrliche Arzneimittel mit hohen Qualitäts- und Umweltstandards im europäischen Raum hergestellt werden. Und dann ist es eben erstmal teurer. Doch auf lange Sicht lohnt es sich.
Wenn sich vorsichtige Patienten selbst gefährden
Mein Mitbewohner Clemens sorgt sich, das Antibiotikum Ciprofloxacin einzunehmen, das ihm sein Arzt verschrieben hat. Denn was er im Beipackzettel gelesen hat, gruselt ihn. „Sehnenrisse, Schlafstörungen, Aortenaneurysma“, liest er monoton aus dem aufgefalteten Beipackzettel vor, der so knistert wie kein anderes Stück Papier auf der Welt. Ich zucke mit den Schultern. Mein Bemühen hinkt, auch in der WG-Küche meine übliche Apothekenberatungs-Performance umzusetzen. „Wie oft sollst du die Tabletten nehmen?“, frage ich. „Ab morgen täglich für 28 Tage.“
Clemens blickt zögerlich auf die Arzneimittelschachtel, die vor ihm liegt. „Aber ich will nicht, dass meine Sehnen reißen. Außerdem beginnt in einem Monat die Klausurenphase, da kann ich keine Schlafstörungen gebrauchen. Ich schlucke die Antibiotika lieber nur jeden zweiten Tag.“ Meine Alarmglocken läuten. Clemens ist dabei, ein grobes Foul zu begehen. Zum Glück ist ein Apotheker vor Ort, der es ihm erklären kann.
So wie meinem Mitbewohner ergeht es vielen Patienten: Sie vergessen, die Arzneimittel lang oder häufig genug einzunehmen, oder sie zweifeln an den Anweisungen ihres Arztes. Das ist nicht ungefährlich. Denn im Bauchraum, wo Clemens seine Infektion hat, muss eine bestimmte Menge Antibiotikum über einen bestimmten Zeitraum ankommen. Ist die Menge an Antibiotika zu gering oder die Zeit, die Clemens die Tabletten einnimmt, zu kurz, provoziert er das Worst-Case-Szenario: Am Ort seiner Infektion könnten Bakterien zurückbleiben, die wegen des Selektionsdrucks resistent werden können.
Manchmal bleiben die Erreger über einen langen Zeitraum am Infektionsort, zum Beispiel wenn sich Biofilme oder Abszesse gebildet haben. Im schlimmsten Fall wird Clemens in ein paar Monaten wieder krank, und zwar gerade durch den Erreger, der jetzt gegen sein Ciprofloxacin resistent geworden sein könnte.
Folgen können verheerend sein
Im Notfall geben die Ärzte sofort ein Mittel, von dem sie erwarten würden, dass es hilft: Wäre dies Ciprofloxacin, würde es nicht gegen die Infektion von Clemens helfen. Die Ärzte würden erst ein anderes Mittel wählen, wenn die Untersuchungen der Mikrobiologen vorliegen, die zeigen, welche Antibiotika noch gegen die krankmachenden und resistenten Bakterien wirken. Ist der Erreger gegen die bevorzugte Therapie resistent, kommen Antibiotika der zweiten oder dritten Wahl infrage. Diese wirken oft weniger effektiv oder bringen mehr Nebenwirkungen mit sich.
Während manche Patienten die Arzneimittel nicht korrekt einnehmen, verschreiben manche Ärzt:innen die Mittel länger als nötig. Obwohl es beispielsweise nach der Studienlage ausreichen würde, ein Antibiotikum für fünf Tage einzunehmen, empfiehlt der Arzt, die Packung mit zehn Tabletten „bis zum Ende“ zu nehmen, also zehn Tage. Hierbei steigt die Gefahr, dass andere Bakterien im Darm oder auf der Haut des Patienten, die aber nicht die Infektion ausgelöst haben, resistent gegen das Mittel werden.
Apotheker:innen, die Probleme lösen
Um mit Antibiotika so gezielt wie möglich zu therapieren, haben viele Krankenhäuser in den letzten Jahren eine eigene Task Force gegen Antibiotikaresistenzen initiiert – sogenannte Antibiotic Stewardship (ABS)-Teams. Mitglieder der ABS-Teams sind Infektiolog:innen, Apotheker:innen, Krankenhaushygieniker:innen und Mikrobiolog:innen. Laut einer Studie werden Patienten in Krankenhäusern mit ABS-Teams durchschnittlich zwei Tage kürzer mit Antibiotika behandelt als in Kliniken ohne eigene Antibiotika-Task Force.
Ich telefoniere mit der Stationsapothekerin Lucie Widmann. Sie arbeitet in einer Klinik in Ravensburg. Gerade bildet sie sich zum „Antibiotic Stewardship Expert“ weiter. Ich frage Lucie, ob ihr Job dazu beiträgt, nachhaltiger mit Arzneimitteln umzugehen. „Zur Nachhaltigkeit tragen wir in dem Sinne bei, dass uns die Medikamente, die wir haben, länger helfen.“ Bei ihrer täglichen Arbeit geht sie von Station zu Station ihres Klinikums, prüft die Medikation der Patienten sowie deren Laborwerte und spricht mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten. Sie und ihre Kollegen der Krankenhausapotheke helfen, dass die richtigen Antibiotika über einen korrekten Zeitraum zum Einsatz kommen. Sie erfassen Statistiken zum Antibiotika-Verbrauch, geben Mediziner:innen Feedback, erstellen hauseigene Leitlinien und bieten Schulungen an.
Die Arbeit im Krankenhaus bringt für die Therapie der Patienten einige Vorteile. „Täglich sehen wir unsere Patienten auf Station, während des gesamten Therapiezeitraumes können wir sie beobachten. In der Apotheke gehen die Kunden wieder nach Hause, nachdem sie ihr Rezept eingelöst haben.“ Lucie überlegt. „Auch haben wir den Einblick in die Laborwerte der Patienten. So können wir nachvollziehen, gegen welche Wirkstoffe ein bestimmter Erreger resistent ist.“ Zudem sammeln sich im Krankenhaus alle Berufe im Therapieprozess auf einem Fleck: Apotheker:innen, Pflegekräfte und Mediziner:innen. „Das macht es einfacher, fachübergreifend zusammenzuarbeiten.“
Eine Task Force in der Vor-Ort-Apotheke?
Doch 85 Prozent der Antibiotika werden nicht im Krankenhaus verordnet, sondern von niedergelassenen Haus- und Fachärzt:innen. Strukturelles Antibiotic Stewardship gibt es hier noch nicht. Zwar beraten schon jetzt viele Apotheker vor Ort intensiv zur Einnahme bestimmter Antibiotika. Doch in unserem Telefonat betont Stationsapothekerin Lucie: „Antibiotic Stewardship beinhaltet nicht nur, die korrekte Einnahme zu überwachen. Es geht auch darum, die genauen Daten zum Antibiotika-Einsatz zu erfassen. Diese nutzen wir, um zukünftige Therapien zu optimieren“. Immerhin: die Digitalisierung des Gesundheitssystems könne dies in den nächsten Jahren ermöglichen. Dies kann auch der Vor-Ort-Apotheke nutzen.
Ein weiteres Problem ist, dass viele Patienten erwarten, dass sie ein Antibiotikum verschrieben bekommen – allein, weil sie krank sind. Selbst dann, wenn dies gar nicht nötig ist. Nach einer Umfrage des European Center of Desease Control (ECDC) gaben 10 Prozent der deutschen Ärzte an, in der letzten Woche vor der Umfrage mindestens einem Patienten ein Antibiotikum verschrieben zu haben, weil es länger gedauert hätte, zu erklären, dass der Patient eigentlich gar kein Medikament benötigt. Öffentliche Apotheken können hier einen wichtigen Beitrag leisten. „Wichtig ist, dass Apotheker zum Beispiel Patienten, die im Winter mit grippalen Infekten in die Apotheke kommen, aufklären. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Patienten ein Antibiotikum benötigen, ist sehr gering.“
Auch könnten in den Apothekenräumlichkeiten Patienten durch Poster oder Flyer informiert werden. Die ABS-Apothekerin Lucie betont den Vorteil, den Apotheken vor Ort haben: die persönliche Bindung zur den Patienten und die Chance, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. „Die Leute wünschen sich, dass Apoteker:innen mehr mit ihnen über Gesundheit sprechen.“
Epilog
Mein Mitbewohner lehnt sich steif über den WG-Küchentisch und versucht, den Beipackzettel aus der Schachtel seines Antibiotikums Ciprofloxacin wieder zusammenzufalten. Das sieht ungeschickt aus, es will ihm nicht gelingen. „Keine Sorge“, lache ich, „Beipackzettel falten lernt man auch in fünf Jahren Pharmaziestudium nicht.“ Clemens wirkt genervt, aber weniger unruhig als vor unserem Gespräch. Ihm leuchtet ein, wo die Probleme liegen.
Antibiotika sind eine Ressource, an der das Leben vieler Hunderttausender Menschen liegt. Sie nachhaltig einzusetzen, will gelernt sein. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.