„Was andere als ‚work‘ bezeichnen, ist für mich ‚life‘“


Dr. Martin Braun studierte in Tübingen Pharmazie. Zunächst hatte er fest vor, in der öffentlichen Apotheke zu arbeiten. Doch dann kam es anders. Heute ist der 56-Jährige beim Phytopharmaka-Hersteller Schwabe als Leiter der Herstellung für die deutschen Produktionsstandorte verantwortlich. Außerdem ist er Präsident der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg. Wie hat Dr. Martin Braun den Einstieg in die Industrie geschafft? Und wie bringt er sein Arbeits- und Privatleben unter einen Hut? Im UniDAZ-Interview hat er es uns erzählt.


UniDAZ: Herr Dr. Braun, ein Besuch bei der Firma Schwabe während Ihres Pharmaziestudiums soll den entscheidenden Impuls für Ihren Weg in die Industrie gesetzt haben. Was waren die Gründe dafür?


Braun: Einmal im Studium wurde uns die Möglichkeit gegeben, ein Industrieunternehmen oder einen pharmazeutischen Großhandel zu besuchen. Ich wählte damals die Firma Schwabe als Ausflugsziel. Eine mir immer noch sehr nachdrücklich im Kopf bleibende Erinnerung war ein Gespräch mit dem damaligen Leiter der Galenischen Entwicklung. Dieses Gespräch war für mich sozusagen die Initialzündung dafür, auch einmal über den Tätigkeitsbereich außerhalb der Apotheke nachzudenken. Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch fest vor, später in die Apotheke zu gehen. Nach Abschluss des zweiten Staatsexamens habe ich ein Angebot für eine Promotionsstelle am Lehrstuhl für Pharmazeutische Technologie in Tübingen. Ich dachte, durch eine Promotion hätte ich noch ein paar Jahre Zeit zu entscheiden, ob ich in die Apotheke gehen will. Daraufhin habe ich für die Promotion zugesagt und wie es der Zufall wollte, konnte ich an einem Thema arbeiten, bei dem die Firma Schwabe Kooperationspartner war. Es war dann schon ein gewisser Weg vorgezeichnet.

UniDAZ: Der Doktor-Titel war dann schon eine Voraussetzung, um in die Industrie zu
kommen, oder?


Braun: Man muss unterscheiden zwischen damals und heute. Damals war es aus meiner Sicht keine Grundvoraussetzung, aber eher üblich. Das hat sich geändert. Ich würde für heute sagen: Die Promotion ist nach wie vor sehr sinnvoll, aber nicht ausschlaggebend. Eines ist ganz klar, während der Promotion reift man und lernt eine gewisse Resilienz.


UniDAZ: Was war Ihre erste Tätigkeit in der Industrie?

Braun: Meine erste Stelle habe ich bei der Firma Steiner Arzneimittel in der Nähe von Hannover angetreten, als Leiter der galenischen Entwicklung.

Foto: Luzie Marquardt


UniDAZ: Aktuell sind Sie bei der Firma Schwabe. Was ist dort Ihre Funktion?


Braun: „Vice President Manufacturing Germany“ oder auf deutsch „Leiter Herstellung Produktionsstandorte Deutschland“. Wir haben drei Produktionsstandorte in Deutschland und dort bin ich verantwortlich für die jeweiligen Herstellungsteams.


UniDAZ: Inwiefern profitieren Sie heute noch von Ihrem Wissen aus dem Studium?

Braun: Jeden Tag. Natürlich steht das Thema Pharmazeutische Technologie im Vordergrund. Wer denkt, die Dinge, die man im Studium lernt, braucht man später nicht mehr, denkt zu kurz. Es geht nicht nur rein um das aktive Wissen, das man sich erarbeitet, sondern insbesondere um die Quervernetzung von gesammeltem Wissen, die Verknüpfung und die Anreicherung mit den Erfahrungen im Job. Die Grundlage vom Studium kann ich tatsächlich heute noch gebrauchen. Ein gutes Grundlagenwissen aus vielen Fachgebieten zu haben, halte ich für wirklich notwendig.


UniDAZ: Vermissen Sie die öffentliche Apotheke und wenn ja, was genau daran?

Braun: Ich vermisse den täglichen Umgang mit der Kundschaft. Es gab jeden Tag irgendetwas Neues, Spannendes. Der Kontakt mit diesen vielen unterschiedlichen Menschen hat mir wahnsinnig Spaß gemacht und macht mir auch heute noch Spaß. Ich habe in der Apotheke gerne über Arzneimittel und die Handhabung von Arzneimitteln aufgeklärt.


UniDAZ: In der Industrie hat man diesen Endverbraucher-Kontakt eigentlich gar nicht. Oder gibt es das doch, etwa in der Betreuung von Patientengruppen?


Braun: Zum Beispiel in unserer Forschungs- und Entwicklungsabteilung, im medizinischen Wissensmanagement, u. a. bei der Konzeption von Studien, haben die Mitarbeiter viel mit Menschen außerhalb der Firma zu tun. Wir haben nicht nur Ärzte und Biologen in diesem Bereich, sondern auch einige Apothekerinnen und Apotheker.


uniDAZ: Wenn es die Karriereleiter immer weiter hochgeht, wird es dann immer weniger fachlich-pharmazeutisch und mehr administrativ?

Braun: Wir sind ein kleines Unternehmen und es ist nicht so, dass wir für jede Tätigkeit eine dedizierte Person haben. Es gibt praktisch täglich Fragestellungen, bei denen es um sehr praktische Dinge geht und nicht (nur) um administrative. Man muss da Vieles miteinander verbinden. Ich bin sicher kein ausgewiesener Spezialist auf einem bestimmten Gebiet mehr. Aber über die Jahre hat sich da oben schon einiges Wissen angesammelt und verfestigt. Mein Haupttätigkeitsfeld ist das Managen von Wissen und Personen, die Mitarbeiterentwicklung und die Teamzusammenstellung.


uniDAZ: Wie wichtig sind kommunikative Fähigkeiten für einen Industrie-Apotheker?

Braun: Die sind sehr wichtig, und zwar auf jedem Gebiet, denke ich. Beispielsweise gibt es im Bereich Forschung und Entwicklung sicher einige Positionen für hochspezialisierte Mitarbeiter, die sich mit den Analysegeräten super auskennen. Die haben zwar manchmal keine direkte Mitarbeiterverantwortung, arbeiten aber im Team. Somit sind auch für sie die Kommunikationsfähigkeiten wichtig, allerdings auf andere Weise. In meiner Position ist die Freude an der Kommunikation und natürlich auch die Kommunikationsfähigkeit unabdingbar. Ich wäre wahrscheinlich nicht da, wo ich bin, wenn ich ein vollkommen introvertierter Typ wäre.


uniDAZ: Wie sind Sie zu einer Führungskraft geworden?


Braun: Erstmal gibt es natürlich eine Prägung schon von Kindheit an. Ich bin aufgewachsen in einer Familie mit vier Schwestern. Da muss man sich dann schon manchmal behaupten können. Ich denke, dass ich schon damals lernte, mit Argumenten umzugehen. Letztlich muss man aus Erfahrungen lernen. Ich habe im Laufe meines Berufslebens sicher oft Fehler gemacht, aber ich habe mich immer bemüht, aus diesen Fehlern zu lernen. Generell braucht man eine gewisse Grundausrichtung, einige grundlegende Eigenschaften, um eine gute Führungskraft werden zu können.


uniDAZ: Was mögen Sie an Ihrem Beruf?


Braun: Diese unglaubliche Bandbreite macht mir Spaß. Diese Vielfalt fände ich möglicherweise nicht in jeder Firma so vor, das ist vielleicht etwas Schwabe-Spezifisches, da wir als mittelständisches Unternehmen einfach viele Tätigkeiten bündeln müssen. Das ist in großen Arzneimittel-Unternehmen in der Regel nicht ganz so der Fall.


uniDAZ: Kann man auch als introvertierte Person Karriere in der Wirtschaft machen oder braucht es einen sehr durchsetzungsstarken ‚Ellenbogen-Charakter‘?


Braun: Der Begriff „Ellbogen-Charakter“ ist sehr negativ konnotiert und gefällt mir nicht. Wenn Sie nur mit dem Ellenbogen arbeiten, werden Sie über kurz oder lang scheitern und dürften wohl kaum in eine Führungsposition gelangen. Was Sie brauchen ist Durchsetzungsvermögen. Das bedeutet, dass Sie an Ihre Grundüberzeugung sowie an bestimmte Werte glauben und dass Sie sich immer selbst klarmachen: Nur in den seltensten Fällen haben Sie wirklich zu 100% recht. Im menschlichen Umgang und in der Beurteilung von Prozessen gibt es fast immer mehr als eine Lösung. Wir sind alle nur normale Menschen, wir machen ganz normale Fehler und keiner von uns ist etwas Besseres. Jeder Mitarbeiter, der am Ende der Linie die Arzneimittel in einen Karton packt oder der die Firma leitet, alle müssen auf ihrem Platz ihr jeweils Bestes tun.


uniDAZ: Wie sieht es mit der work-life-sleep-balance aus? Müssen Sie bei einem der drei Punkte Abstriche machen?


Braun: Wenn ich nicht mindestens meine sieben Stunden Schlaf habe, dann bin ich echt unausstehlich. Work passt, da habe ich keine Probleme. Life ist tatsächlich momentan sehr schwierig. Als Kammerpräsident ist es nochmal schwieriger. Vieles erledige ich am Wochenende, wo ich früher tatsächlich zumindest am Sonntag meist frei hatte. Das kommt nicht mehr ganz so oft vor. Ich mache es sehr gerne. Ich sehe einen Sinn darin, dass es mich antreibt und dass ich etwas bewegen kann. Insgesamt gibt es bei mir keine scharfe Trennungslinie zwischen Arbeit und Freizeit. Vieles von dem, was andere als „work“ bezeichnen ist für mich wohl eher „life“.


uniDAZ: Inwiefern hat sich während Ihrer Laufbahn das Anforderungsprofil an einen Industrie-Apotheker verändert?

Braun: Wir denken heute sicher wesentlich weniger in Hierarchien als früher, der Teamgedanke steht im Vordergrund. Die Hierarchie-Ebenen sind zwar noch da. Wir brauchen Hierarchien und irgendeiner muss letztlich die Verantwortung tragen. Mitarbeiter werden heute aber wesentlich stärker einbezogen bei der Entscheidungsfindung und können sich viel mehr einbringen. Das bedeutet aber auch, dass das Team funktionieren muss und reine Einzelkämpfer es schwerer haben.


UniDAZ: Wie sieht ihr typisches Bewerberprofil aus?


Braun: Es gibt keinen typischen Bewerber. Ganz generell kann man sagen: Jemand der sich auch außerhalb des Studiums mit etwas beschäftigt hat, zum Beispiel im ehrenamtlichen Bereich, solche Bewerber haben aus meiner Sicht einen gewissen Vorteil gegenüber denen, die sich nicht anderweitig engagiert haben. Die haben eine andere Exposition gehabt zu anderen Menschen, nicht nur fachlich. Die haben im Regelfall irgendetwas organisieren müssen oder übernahmen Verantwortung für etwas oder jemanden.

Desiree Aberle, Stuttgart

Desiree Aberle (dab) hat Pharmazie in Heidelberg studiert. Nach der Approbation arbeitete sie mehrere Jahre in einer öffentlichen Apotheke und absolvierte ein Volontariat bei der Deutschen Apotheker Zeitung. Seit Oktober 2022 arbeitet sie dort als Redakteurin.

Dr. Armin Edalat, Stuttgart

Dr. Armin Edalat ist Apotheker und Chefredakteur der Deutschen Apotheker Zeitung.

Juliane Russ

Juliane Russ hat an der Universität Hohenheim Ernährungswissenschaften studiert. Mit dem Master in der Tasche fing sie im April 2022 ein Volontariat bei der Deutschen Apotheker Zeitung an.